Auszug aus "Dialog als Kunst gemeinsam zu denken", William Isaacs, EHP 2011, 2. Auflage
Zuhören - Partizipation
Zuhören erfordert, nicht nur den Worten der anderen zuzuhören, sondern vor allem auch den Lärm im eigenen Inneren wahrzunehmen, zu akzeptieren und nach und nach
loszulassen.
Zuhören und Lernen ist nur in einem Zustand der Aufmerksamkeit, des Schweigens möglich. Dann, so scheint mir, ist Kommunikation möglich.
Sprache ist holographisch. Jedes Wort enthält nicht nur den Kontext des Satzes, sondern auch den tieferen Kontext unseres Lebens. Wenn Sie das erste Mal mit
einem anderen Menschen interagieren, überträgt er Ihnen in seinen ersten Worten das gesamte Hologramm seines Bewusstseins.
Der Dialog ist ein Prozess, der uns die Partizipation an einem viel größeren Ganzen bewusster macht.
Zuhören ist gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass ein großer Teil der eigenen Reaktionen auf andere aus dem Gedächtnis kommt.
Wir haben die Gewohnheit, alleine zu denken, d.h. wir ziehen Schlussfolgerungen, ohne sie zu überprüfen und betrachten diese Schlussfolgerungen dann als
Tatsachen. Übereilte Schlussfolgerungen sind praktisch die Regel.
Reflexives Zuhören bedeutet, man beginn zu erkennen, wie andere die Welt erleben.
Die wohl einfachste und wirkungsvollste Praktik des Zuhörens ist es, still zu sein. Zuhören aus dem Schweigen bedeutet, auf das zu hören, was aus der Tiefe in
uns aufsteigt, und seine Bedeutung zu verstehen.
Schweigen ist ein Seinszustand, in dem man loslassen kann.
Respektieren - Kohärenz
Um eine Person als Ganzheit zu sehen, bedarf es des Respekts. Jemanden zu respektieren heißt, nach den Quellen seiner Erfahrung zu suchen. Re-specere bedeutet erneut
hinschauen bzw. beobachten.
Respekt bedeutet auch, die Grenzen der Mitmenschen zu akzeptieren und zu bewahren.
Respekt bedeutet hier, auf das Beste in den Menschen zu achten und die Mitmenschen als Geheimnis zu betrachten, das man nie wirklich ergründen kann. Sie sind
Teil des Ganzen und in einem sehr speziellen Sinne auch Teil von uns.
Das Kohärenzprinzip besagt, dass das Universum ein ungeteiltes Ganzes ist, ob wir das wahrnehmen oder nicht.
Ich nehme die Möglichkeit ernst, dass sich die Ereignisse aus einer gemeinsamen Quelle entfalten. Respekt bedeutet hier, dass ich Respekt habe vor mir selbst,
vor anderen, vor Unterschieden und insbesondere vor all denen, die anderer Meinung sind als ich.
Es gibt keine Koexistenz von Erkundung und Gewalt.
Die Fähigkeit zur Wahrnehmung ist an die Gegenwart gebunden. Sie verschwindet, sobald wir an die Vergangenheit denken oder uns Sorgen um die Zukunft
machen.
Zentriert zu sein, präsent zu sein, bedeutet im Gleichgewicht zu sein. Das ist ein fokussierter Zustand.
Was ich höre, ist auch in mir. Wenn wir das akzeptieren, übernehmen wir die Verantwortung für uns. Wir können dann nicht mehr anderen die Schuld am Geschehen
zuweisen, z.B. bei Ärger. Die Schwierigkeit ist nur, das auch zuzugeben.
Suspendieren - Bewusstheit
Suspendieren heißt, auftauchende Gedanken und Gefühle zur Kenntnis zu nehmen und zu beobachten, ohne zwangsläufig danach handeln zu müssen. Dadurch wird eine
ungeheure Menge an kreativer Energie freigesetzt.
Suspendieren bedeutet, die Richtung zu wechseln, inne zu halten, einen Schritt zurückzusetzen und die Dinge aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Das ist
eine der größten Herausforderungen überhaupt – vor allem dann, wenn man sich schon auf eine Position festgelegt hat.
Reflexion in Aktion bezeichnet die Fähigkeit, Ereignisse in dem Augenblick wahrzunehmen, in dem sie geschehen. Durch diese Art des Denkens befreien wir uns von
altgewohnten Reaktionen und bleiben flexibel und lebendig. Suspendieren heißt, die Verfertigung der Gedanken aktiv zu beobachten.
Es gibt zwei Formen des Suspendierens. Die erste Form besteht darin, den Bewusstseinsinhalt zu enthüllen, ihn sich selbst und anderen verfügbar zu machen,
damit man erkennt, was vorgeht. Bei der zweiten Form der Suspendierung macht man sich die Prozesse bewusst, die ein solches Denken erzeugen.
Nach Meinung von Maturana und Varela beobachten wir nicht einfach die Welt, sondern schaffen unsere Welterfahrung aktiv durch die Strukturen des Nervensystems
und des Bewusstseins in Verbindung mit Umweltreizen. Die Welt partizipiert an uns, und wir partizipieren and er Welt.
Suspendieren erfordert es, der Versuchung, alles in Ordnung zu bringen, zu korrigieren oder zu lösen, nicht nachzugeben, sondern es zunächst zu
erkunden.
Manchmal kommt es nur deshalb zu Veränderungen, weil man selbst eine neue Brille aufgesetzt hat, ohne dass sich die Außenwelt tatsächlich geändert hätte. Man
kann lernen, etwas zu sehen, was man bislang übersehen hatte, obwohl es die ganze Zeit da war.
Artikulieren - Entfaltung
Einer der schwierigsten Aspekte eines echten Dialogs besteht darin, die eigene Stimme zu finden, d.h. unabhängig von anderen Einflüssen die eigene Wahrheit
auszusprechen.
Um im Dialog zur eigenen Stimme zu finden, muss man lernen, sich zu fragen, was jetzt gerade ausgedrückt werden sollte.
Echter, vollständiger Ausdruck verleiht der Stimme einen Zauber. Ich schaffe, während ich spreche. Das ist Magie! Die eigene Sprache hat verändernde
Kraft.
Um sich wirklich artikulieren zu können, muss man auch lernen, still zu sein und zuzuhören.
Artikulieren erfordert auch die Bereitschaft, der Leere zu vertrauen, dem zunächst entstehenden Gefühl, nicht zu wissen, was man tun und sagen soll.
Artikulieren erfordert den Sprung ins Leere, sich in die Dunkelheit des eigenen Unverständnisses zu begeben. Es ist ein Schritt zur Freisetzung bislang
versperrter Energien. Meist regiert die Furcht.
Unsere Worte dienen meist dazu, die Vereinzelung zu bewahren. Wenn die Worte aus der Ganzheit kommen und diese Ganzheit artikulieren, hat man oft das Gefühl, es
seien nicht ganz die eigenen Worte. Das liegt auch daran, dass dann ein Anteil von uns spricht, der größer ist, als uns bewusst war – verbunden mit einem weit größeren Feld an Bewusstheit und
Aufmerksamkeit.
Der zentrale Punkt hier ist der, dass alles, was entsteht, aus einer gemeinsamen Quelle entsteht.
Die Mitte ist das Wichtigste. Indem man im Wortsinne ins Zentrum schaut, durchbricht man den gewohnten Fokus auf interpersonale Beziehungen. Das Ziel besteht
darin, uneingeschränkt auf das Zentrum jedes einzelnen Teilnehmers zu hören.
Man kann sich auch fragen: Welche Stimme spricht jetzt? Ist es meine oder ist es eine, die ich von anderen ererbt oder übernommen habe?